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Kann ein Gericht in einem Verfahren, in dem es um die Feststellung der Arbeitsunfähigkeit geht, ein zusätzliches Sachverständigengutachten verlangen?

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​​​​​​​​​Michał Zakrzewski

19. November 2024


Im polnischen Rechtssystem ist die Feststellung der Arbeitsunfähigkeit ein Schlüsselelement in vielen Gerichtsverfahren, insbesondere Sozialversicherungs- und Invalidenrentensachen. Meistens ist dann ein Gutachten, das von Gerichtssachverständigen mit medizinischen Spezialkenntnissen geliefert wird, das wichtigste Beweismittel, auf das sich das Gericht bei seinen Feststellungen stützt. 

Mit den Feststellungen der Gerichtssachverständigen kann jede der Parteien unzufrieden sein – die Person, die sich um eine Leistung bemüht, wenn sie lt. Gutachten arbeitsfähig ist, und die Rentenbehörde, wenn die betroffene Person lt. dem Gutachten arbeitsunfähig ist. 

Es gibt Situationen, in denen das Gericht von denselben oder von anderen Gutachtern ein zusätzliches Gutachten verlangen kann. Nachstehend gehen wir auf die Frage ein, wann und warum ein Gericht eine solche Entscheidung treffen kann und welche Konsequenzen sich daraus ergeben.


INHALTSVERZEICHNIS​


Wann kann ein Gericht ein zusätzliches Gutachten verlangen – Rechtsgrundlagen


Lt. der polnischen Zivilprozessordnung (ZPO-PL) kann das Gericht Gutachter aus verschiedenen Bereichen hinzuziehen, falls der Charakter des Verfahrens dies erfordert. Bei der Feststellung der Arbeitsunfähigkeit sind dies meistens Sachverständige aus den Bereichen Arbeitsmedizin, Neurologie, Psychiatrie oder Orthopädie.

Außerdem kann das Gericht lt. Art. 286 ZPO-PL ein zusätzliches Gutachten von den Sachverständigen verlangen, wenn es dies als für die Aufklärung wesentlicher Umstände der Sache notwendig erachtet. Diese Vorschrift ist bei der Anforderung eines zusätzlichen Sachverständigengutachtens von ausschlaggebender Bedeutung.  Sie räumt dem Gericht weitreichende Befugnisse bei der Einholung zusätzlicher Gutachten zwecks genauer Aufklärung sämtlicher wesentlicher Umstände der Sache ein.


gutachtens


Beispiel


Die Sozialversicherungsanstalt (ZUS) hat dem Versicherten S.J. eine Invalidenrente verweigert, da die Ärztekommission der ZUS zu dem Schluss kam, dass S.J. nicht arbeitsunfähig ist.

S.J. legte beim Bezirksgericht Berufung gegen die Entscheidung der ZUS ein,  diese wurde jedoch vom Gericht zurückgewiesen.

Das Gericht stellte fest, dass der Versicherte in der Vergangenheit regelmäßig in psychiatrischer Behandlung gewesen sei, an Anpassungsstörungen und später an Depressionen litt, dass dabei die wiederkehrenden Depressionsschübe stärker oder schwächer ausgefallen seien und dass der Berufungskläger gut auf die eingeleiteten medizinischen Maßnahmen anspreche.  

Der in dieser Sache hinzugezogene psychiatrische Sachverständige stellte bei der ärztlichen Untersuchung keine Depressionssymptome fest, die die Arbeitsfähigkeit wesentlich einschränken würden, und legte ein entsprechendes Gutachten vor. Im Hinblick auf die Denkstörungen und die von S.J. geltend gemachten emotionalen Störungen und die Verschlechterung der kognitiven Fähigkeiten beantragte der Sachverständige die Bewertung durch einen Psychologen. Der psychologische Sachverständige stellte in seinem Gutachten weder Stimmungsstörungen noch Störungen der kognitiven Fähigkeiten fest, die auf eine organische Schädigung des zentralen Nervensystems (ZNS) hindeuteten, welche den Patienten in irgendeiner Weise an der Aufnahme einer Arbeit hindern würden. 

Die hinzugezogenen Gutachter erstellten anschließend ein gemeinsames Gutachten, in dem sie nach erneuter Prüfung der Dokumentation und der Untersuchungsergebnisse bei S.J. keine auch nur teilweise Arbeitsunfähigkeit feststellten. Das Bezirksgericht wies die Berufung zurück und stützte sich dabei auf die Schlussfolgerungen der Gutachter. 

Nach Auffassung des Gerichts der ersten Instanz wurden die Sachverständigengutachten sorgfältig und professionell erstellt, und zwar auf der Grundlage der Untersuchung von S.J. sowie der Gesamtheit der zugänglichen gerichtlichen und ärztlichen Dokumente. Die Gutachten hätten die zur Bewertung des Grades der Beeinträchtigung der Funktionstüchtigkeit des Organismus des Versicherten und seiner eventuellen Arbeitsfähigkeit notwendigen Elemente enthalten. Angesichts des logischen Charakters der in den Gutachten enthaltenen Schlussfolgerungen stellte das Bezirksgericht fest, dass es keinerlei Grundlagen für eine Infragestellung dieser Schlussfolgerungen gäbe. S.J. machte Vorbehalte gegen die Sachverständigengutachten geltend, jedoch konnte das Gericht in diesen Gutachten keinerlei Widersprüche oder Unklarheiten finden.

Dabei wies das Gericht darauf hin, dass der Versicherte unzweifelhaft mit verschiedenen Beschwerden und Erkrankungen zu kämpfen habe, jedoch seien bei den durchgeführten Untersuchungen keine Funktionsstörungen festgestellt worden, deren Schwere eine Arbeitsunfähigkeit im Sinne der o.g. Vorschrift hervorrufen würde.   

Das Gericht wies unter Bezugnahme auf eines der Urteile des Obersten Gerichts [1] darauf hin, dass die Grundlage für die Zuerkennung einer Leistung die von Sachverständigen vorgenommene Bewertung des Gesundheitszustandes derjenigen Person sei, die die Leistung beantrage. Dabei würden subjektive Empfindungen des  Betroffenen nicht berücksichtigt.

S.J. legte gegen dieses Urteil als Ganzes Berufung ein und verlangte die Zuerkennung einer Invalidenrente. 
Er machte geltend, dass das Urteil sich auf unglaubwürdige Gutachten  stütze. Nach Auffassung von S.J. wurden beide Gutachten nach Untersuchungen erstellt, deren Ergebnisse von der Situation abhängig waren, in der er sich zu der jeweiligen Zeit befand, und deshalb seien diese Untersuchungen nicht maßgeblich. S.J. betonte, dass es bei ihm nach wie vor zu emotionalen Störungen komme, und die Gründe für diese Störungen würden von den Gutachtern bagatellisiert. Die Gutachten der Sachverständigen seien allgemein gehalten und nicht präzise genug. S.J. verlangte die Hinzuziehung anderer Gutachter.

Das Berufungsgericht wies die Berufung zurück und erhielt grundsätzlich die Argumentation des Gerichts der I. Instanz aufrecht. 

Wann wendet ein Gericht Art. 286 ZPO-PL an?


Aus der gefestigten Praxis der Gerichte geht Folgendes hervor: Die Tatsache, dass ein Gericht von denselben oder von anderen Sachverständigen ein zusätzliches Gutachten verlangen kann, bedeutet keineswegs, dass dies in jedem Fall notwendig wäre. Dieses Erfordernis muss sich nämlich aus den Umständen der Sache ergeben und unterliegt der Bewertung des erkennenden Gerichts. Deshalb ist ein Antrag auf Hinzuziehung eines oder mehrerer weiterer Gutachter unbegründet, wenn das bereits vorgelegte Gutachten lediglich ungünstig für die Partei ist. Wer einen solchen Antrag stellt, muss in den zu den Akten genommenen Sachverständigengutachten Fehler, Widersprüche oder andere Mängel nachweisen, die diese Gutachten disqualifizieren und damit die Anfertigung weiterer Gutachten oder die Hinzuziehung weiterer Gutachter begründen.

In Wirklichkeit ist es außerordentlich schwierig, ein Sachverständigengutachten erfolgreich anzufechten, da diese Gutachten von Personen erstellt werden, die über Spezialwissen verfügen, das ein Berufungskläger oder sogar ein professioneller Bevollmächtigter nicht haben kann. 

In der Praxis kann man die am häufigsten erfolgreichen Argumente, mit denen die Forderung nach einem zusätzlichen Gutachten bei der Feststellung der Arbeits(un)fähigkeit begründet wird, in 4 Kategorien einteilen:

  1. Mangelnde Eindeutigkeit oder innere Widersprüchlichkeit des Gutachtens: Sind die Sachverständigengutachten nicht eindeutig oder widersprüchlich, so kann das Gericht ein zusätzliches Gutachten verlangen, um die Zweifel zu zerstreuen. Als Beispiel hierfür kann eine Situation dienen, in der die Sachverständigen sich über den Grad oder über die Gründe der Arbeitsunfähigkeit nicht einig sind. In solchen Fällen kann ein zusätzliches Gutachten bei der eindeutigen Feststellung der Tatsachen helfen.
  2. Neue Beweise oder Umstände: Finden sich neue Beweise oder Umstände, die Einfluss auf die Bewertung der Arbeitsunfähigkeit haben können, so kann das Gericht die Erstellung eines weiteren Gutachtens für notwendig erachten. Dies kann z.B. neue Ergebnisse medizinischer Untersuchungen betreffen, die bei der Erstellung des ursprünglichen Gutachtens nicht vorlagen.
  3. Zweifel an der Kompetenz der Sachverständigen: Entstehen Zweifel an der Kompetenz der Sachverständigen, die das ursprüngliche Gutachten erstellt hatten, so kann das Gericht andere Sachverständige derselben Fachrichtung hinzuziehen.
  4. Kompliziertheit der Sache: In hochgradig komplizierten Sachen kann das Gericht es für notwendig erachten, Gutachten von mehreren Sachverständigen aus verschiedenen Wissensgebieten einzuholen. Dies können z.B. Sachen sein, bei denen die Arbeitsunfähigkeit sich aus vielen, nebeneinander bestehenden Erkrankungen ergibt und deren Auftreten im Zuge weiterer Untersuchungen aufgedeckt wird.​


Verfahren bei der Forderung nach zusätzlichen Gutachten


Es ist wichtig, zu beachten, dass obwohl das Gericht den Beschluss über die Zulässigkeit eines weiteren Sachverständigengutachtens erlässt, das zivilrechtliche Verfahren kontradiktorischen Charakter hat; dies bedeutet, dass jede der Parteien an einem Beweis der von ihr vorgebrachten Behauptungen interessiert sein muss. Somit obliegt es der Partei, das Gutachten anzufechten, den Antrag auf Erlass eines solchen Beschlusses durch das Gericht zu stellen und entsprechende Argumente vorzubringen. ​

Konsequenzen eines zusätzlichen Gutachtens


Ein zusätzliches Sachverständigengutachten kann wesentlichen Einfluss auf den Verlauf und das Ergebnis des Verfahrens haben. Es kann die früheren Feststellungen bestätigen oder in Frage stellen, was zu einer Änderung der Entscheidung des Gerichts bezüglich der Feststellung der Arbeitsunfähigkeit führen kann. In der Praxis trägt ein zusätzliches Gutachten oft zu einer präziseren und gerechteren Entscheidung der Sache bei.​
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Zusammenfassung​


Die Anforderung eines zusätzlichen Gutachtens von denselben oder anderen Sachverständigen durch das Gericht ist ein Instrument, dass die Sorgfältigkeit und Genauigkeit eines Gerichtsverfahrens gewährleisten soll. In Verfahren, in denen es um die Feststellung der Arbeitsunfähigkeit geht, kann ein zusätzliches Gutachten von ausschlaggebender Bedeutung für eine gerechte Entscheidung in der Sache sein. Um sich jedoch  erfolgreich auf ein solches Gutachten berufen zu können, muss das bisherige Gutachten mangelhaft sein,.


[1] Urteil des Obersten Gerichts vom 20. Mai 2013, (Az. I UK 650/12).​​​

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Michał Zakrzewski

Attorney at law (Polen)

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